von Cigdem Akyol
Die Geschichte der Begegnungen von Deutschen und TürkInnen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft ist die Geschichte eines doppelten Missverständnisses.
Erstes Missverständnis: Die GastarbeiterInnen kamen mit einem offenen Zeithorizont, wollten meist aber nur wenige Jahre bleiben. Sie wurden von der Bundesregierung mit dem Anwerbestopp 1973 schroff konfrontiert, dabei waren sie nicht selten längst zu einheimischen InländerInnen geworden.
Zweites Missverständnis: Der Übergang von befristeten zu Daueraufenthalten und schließlich zur Einwanderung wurde von Teilen der Gesellschaft - etwa den Kirchen und Gewerkschaften – frühzeitig registriert. Doch die Politik übte sich in Erkenntnisverweigerung: „Die Bundesrepublik“ sei kein Einwanderungsland, hieß es so noch lange seitens der Bundesregierung. Doch Deutschland war und ist ein Einwanderungsland. Und das nicht wider Willen, denn die Migration wurde von hier aus zumindest in den Anwerbejahren aktiv gefördert. Wider besseren Wissens wurde dennoch Jahrzehnte weiter das Gegenteil behauptet.
Sie haben vergessen zurückzukehren
Die Trümmer waren weggeräumt, etliche deutsche Männer waren erst seit kurzem wieder zurück aus der Kriegsgefangenschaft, die Demokratie befand sich im Wiederaufbau, noch war nichts gefestigt. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brauchten die Deutschen Hilfe aus dem Ausland. Die eigenen Kräfte reichten nicht aus, um das Land aufzubauen und die Wirtschaft anzukurbeln, denn die Republik erlebte einen Boom. Man erreichte Ende der 1950er Jahre nahezu Vollbeschäftigung. Bereits 1953 wurde im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Bundeswehr über eine „Heranziehung außernationaler Kräfte“ beraten. 1955 unterzeichneten Deutschland und Italien das Anwerbeabkommen und die ersten „GastarbeiterInnen“ aus Italien kamen. SpanierInnen, GriechInnen, PortugiesInnen, JugoslawInnen und vor allem Menschen aus der Türkei folgten.. Menschen, die ihr Land aus Armut verlassen hatten, andere sind aus Abenteuerlust, zum Studium oder aus Liebe hier gelandet. Gründe für Migration gibt es viele.
Der Mauerbau 1961 und das Abreißen des Flüchtlingsstroms aus dem Osten taten ein Übriges: Mit dem Mauerbau wurde die Arbeitsmigration zu einem wahren Massenphänomen. Es war die CDU unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, welche die GastarbeiterInnen ins Land holte. Ein zweiseitiges Abkommen mit einem langen Aktenzeichen wurde am 30. Oktober 1961 zwischen dem Auswärtigen Amt und der türkischen Botschaft hin und her gesandt, ohne feierliche Zeremonie. "Die Türkische Botschaft beehrt sich, dem Auswärtigen Amt mitzuteilen, dass sich die Regierung der Republik Türkei mit den Vorschlägen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einverstanden erklärt", fügte die Botschaft dem Schreiben hinzu und bestätigte so „die Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland“.
Mehr als zweieinhalb Millionen Türkeistämmige bewarben sich zwischen 1961 und 1973 um eine Arbeitserlaubnis. Nur jede/r Vierte erhielt sie. Zwischen der Gesundheitsprüfung „aus seuchenhygienischen Gründen“ in der Türkei wie auf dem Viehmarkt und der Abreise nach Deutschland lagen oft nur wenige Tage. Mit Sonderzügen wurden Hunderttausende Menschen aus der Türkei nach Impfung und ärztlicher Tauglichkeitsprüfung von Sammelstellen in Ankara und Istanbul über München nach Deutschland geholt und auf die Industriegebiete der Republik verteilt.
Die Ankömmlinge hielten es meist überhaupt nicht für notwendig, die fremde Sprache zu lernen. Schließlich waren sie AuswanderInnen auf Zeit, wozu also Energie verschwenden? Und in Deutschland wurde kaum etwas getan, um sie aus ihrer Muttersprache herauszulocken. Schließlich waren sie nur kurzfristig hier und die Bundesrepublik kein Einwanderungsland. Wozu also Gelder verschwenden? Welche Anstrengung es kostet, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen, konnten sich viele ausmalen. Welche Anspannung es jedoch bedeutet, sich ohne Worte zurechtfinden zu müssen, war von der Mehrheitsgesellschaft nur schwer zu begreifen.
Viele der MigrantInnen lebten zunächst in Massenquartieren. Die sogenannte „Baubudenverordnung“ von 1959 sah je eine Schlafgelegenheit in Etagenbetten vor, einen abschließbaren Spind, einen Platz am Esstisch und einen Stuhl pro Person. Im „Gastarbeiter-Lager“ – so hieß das damals wirklich – der Firma Philipp Holzmann in Frankfurt-Rödelheim kamen auf 800 Menschen nur acht Duschen und fünf Wasserhähne. Die MigrantInnen arbeiteten vor allem als IndustriearbeiterInnen und nahmen der Mehrheitsgesellschaft die unfallträchtigen Jobs ab. Die einstigen LandarbeiterInnen wurden als „ungelernte Arbeitskräfte“ eingestuft. Bundesregierung und Wirtschaft frohlockten: Die AusländerInnen seien "im besten Schaffensalter zwischen 18 und 45 Jahren", sie zahlten kräftig Steuern und Sozialversicherungsbeiträge.
Entsprechend euphorisch begrüßte der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, im November 1969 auf dem Münchner Hauptbahnhof den Millionsten Gastarbeiter. Der 24-jährige Ismail Bahadir aus Konya bekam vor seinem Weitertransport zu den Mainzer Klöckner-Werken einen Fernseher geschenkt, und Stingl sagte dem Neuankömmling „die Deutschen sind hilfsbereit und verständnisvoll. Besonders dann, wenn der Ausländer ein fleißiger Mensch ist.“ Dass viele Ankömmlinge kaum lesen und schreiben konnten, dass ein Weg zur Teilnahme an der deutschen Gesellschaft deshalb für diese Menschen besonders weit sein würde, störte damals niemanden. Die „Gastarbeiter“ sollten ohnehin nach ein paar Jahren Arbeit wieder nach Hause fahren.
Aber die Idee von einer frei verfügbaren und vollkommen kontrollierbaren „industriellen Reservearmee“ (Historiker Ulrich Herbert) ließ sich nicht lange halten. Aufgrund der sich eintrübenden Wirtschaftslage verhängte die sozial-liberale Regierung Willy Brandts 1973 einen Anwerbestopp, und die „GastarbeiterInnen“ wurden zu ökonomischem Ballast erklärt. Vielen der MigrantInnen wurde klar, dass eine abermalige Einreise nicht möglich sein würde, und sie holten ihre Familien nach. Auch ein Gesetz Anfang der 1980er Jahre zur Förderung der Rückkehrbereitschaft, welches jedem ausreisewilligen „Gastarbeiter“ eine Prämie versprach, brachte nicht den von der Bundesregierung gewünschten Erfolg, denn in der Türkei gab es immer wieder Militärputsche, Wirtschaftskrisen und Inflationsschübe.
Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps lebten etwa 800.000 Menschen aus der Türkei in Deutschland. Heute leben rund 2,5 Millionen türkeistämmige Menschen in der vierten Generation hier. Die große Mehrheit von ihnen ist entweder auf dem Weg des Familiennachzugs hergekommen oder hier geboren. Denn Migration ist nicht nur eine Sache von Einzelnen, ganze Familien hängen daran. Wer geht, der verlässt auch ein lebendiges Netz von Beziehungen, das neu geknüpft werden muss oder das der Person nachfolgt. Doch die erste Generation hat den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, sie hat ihn nur immer weiter aufgeschoben – 30 Prozent der damals eingewanderten TürkInnen sind wieder zurück in die Türkei gegangen, und mittlerweile folgen ihnen auch Urenkel.
Von Einbeziehung und Ausgrenzung
Die Selbstverständlichkeit und Gelassenheit türkischen Lebens in Deutschland beruht auf einem langen und steinigen Weg, der zu vielen Höhepunkten führte und dennoch an manch schmerzhafte Grenzen stieß. Vor allem die Wende war für viele TürkInnen ein einschneidendes Erlebnis. „In Auseinandersetzungen und Debatten um den Mauerfall 1989 und die deutsche Einheit 1990 ist die Perspektive verengt auf die Erfahrungswelten des deutschen Bevölkerungsanteils diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze“, kritisiert Nevim Cil vom Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin.
„Der Wiedervereinigungsslogan 'Wir sind ein Volk' zielte auf die Einheit der Angehörigen des Volkes mit einem deutschen Hintergrund, nicht etwa auf die Einheit der Bevölkerung in Deutschland. Der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung veränderten das gesellschaftliche Gefüge. Die Zwei-Gruppenkonstellation (Westdeutsche-Einwanderer) wurde zu einer Drei-Gruppen-Konstellation (Westdeutsche-Ostdeutsche-Einwanderer) und drängte zu einer Neupositionierung der einzelnen Gruppen“, sagt Cil.
Nach der Wiedervereinigung und im Zuge einer politischen Debatte um das Asylrecht kam es in Deutschland immer häufiger zu rassistisch motivierten Gewalttaten. Die Pogrome und Brandanschläge von Hoyerswerda (1991), Rostock (1992), Mölln (1992) und schließlich Solingen (1993), wo Rechtsextreme das Haus einer türkischen Familie in Brand setzten und fünf Menschen starben, führten dazu, dass MigrantInnen sich aus Angst zurückzogen. Verheilt sind diese Wunden bis heute nicht.
2008 zeigten Ergebnisse einer Umfrage im Auftrag der „Zeit“, wie gespalten die DeutschtürkInnen heute noch sind. So sagte jede/r zweite Türkeistämmige, sie oder er habe immer noch das Gefühl, hierzulande nicht willkommen zu sein. Dennoch sagten zwei Drittel auch, dass es gut gewesen sei, dass ihre Familien hierhergekommen sind. Die überwältigende Mehrheit der TürkInnen in Deutschland wünscht sich, dass auf ihre Eigenheiten mehr Rücksicht genommen wird. Zwar betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie sei auch die Regierungschefin der hier lebenden Menschen aus der Türkei. Doch bei der Studie stellte sich auch heraus, dass 78 Prozent der DeutschtürkInnen Angela Merkel nicht als ihre Kanzlerin empfinden. Bei den Frauen sind es sogar 83 Prozent.
Doch woher kommt dieser Zwiespalt? Warum fühlen sich Menschen hier in der vierten Generation noch immer nicht angenommen?
Wer Teil dieser Gesellschaft ist, das definiert das hiesige Recht sehr genau. "Nach dem Staatsangehörigkeitsrecht ist deutscher Staatsangehöriger, wer die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und nicht wieder verloren hat. Jeder Person, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, stehen in der Bundesrepublik Deutschland die gleichen Rechte und Pflichten zu, unabhängig davon, auf welche gesetzlich vorgesehene Weise die Staatsangehörigkeit erworben wurde", so definiert es das Bundesinnenministerium.
Menschen mit Migrationshintergrund, die hier geboren werden, müssen ihre Einbürgerung beantragen. Wer das nicht macht, dem kann etwa bei kriminellen Vergehen abgeschoben werden, dass Menschenrecht auf Heimat, welches in anderen Zusammenhängen häufig hervorgehoben wird, ist hier ein wenig diffus geraten ist.
Debatten: Von der „Leitkultur“ bis hin zu den „Kopftuchmädchen“
"Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage, was ist deutsch, niemals ausstirbt", stellte einst schon Friedrich Nietzsche fest. Seit Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland einwandern, wird über sie gestritten, leidenschaftlich und polemisch debattiert, und natürlich werden die AusländerInnen auch instrumentalisiert.
Roland Koch, einst Ministerpräsident von Hessen, sprach von der größeren "Anpassungserwartung" an "diejenigen, die zusätzlich ins Land kommen". Im Landtagswahlkampf 1999 des damaligen hessischen Unions-Chefs gegen die doppelte Staatsbürgerschaft konnten die WählerInnen an CDU-Stände kommen, um "gegen die Ausländer zu unterschreiben". Binnen weniger Wochen sammelte Koch in seinem ersten Wahlkampf fünf Millionen Unterschriften gegen die geplante Staatsbürgerschaftsreform der rot-grünen Bundesregierung. Wolfgang Schäuble wünschte sich die "Eingliederung fremder Kulturen", und der frühere CSU-Chef Edmund Stoiber hatte schon immer vor dem multikulturellen "Mischmasch" gewarnt. Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl bat die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen nicht ein einziges Mal zu einem offiziellen Gespräch über AusländerInnen. Und die Bundesregierung weigerte sich in den 90er-Jahren konsequent, sich zum längst real gewordenen Status als Einwanderungsland zu bekennen, ja betonte sogar, dass Deutschland nach wie vor kein solches sei.
Kurze Zeit später hielten neue Reizvokabeln Einzug in die Öffentlichkeit. Der Begriff "deutsche Leitkultur" wurde im Jahr 2000 erstmals von Friedrich Merz verwendet. Der damalige Unions-Fraktionschef löste damit eine heftige Debatte aus. Trotzdem nahm die CDU 2007 den umstrittenen Begriff der „Leitkultur“ in ihr Grundsatzprogramm auf.
Und dann betrat ein ganz neuer Migrationsexperte die Bühne: Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ steht seit seinem Erscheinen im August 2010 auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sarrazins Thesen sind schnell zusammengefasst: Er sagt, er habe nichts gegen MuslimInnen, er finde sie nur meist dumm. Er sieht sich als Sozialdemokrat, der ausspricht, was sich sonst angeblich keiner zu sagen traut: dass sich Deutschland abschafft und MuslimInnen Europa unterwandern. Am 17. Oktober 2010 erklärte Kanzlerin Angela Merkel dann, dass der multikulturelle Ansatz des Zusammenlebens gescheitert sei. Dennoch gratulierte Merkel dem türkeistämmigen deutschen Fußballnationalspieler Mesut Özil nach einem 3:0 gegen die Türkei öffentlichkeitswirksam in der Umkleidekabine.
Bei der Diskussion um den Sozialdemokraten Sarrazin wurde sein Parteigenosse, der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, übergangen. Schmidt hat sich zwar nie für angeblich genetisch bedingte Intelligenzunterschiede interessiert, sich aber mehrfach kritisch über die Zuwanderung geäußert.
Eine „kulturelle Einbürgerung“ der ausländischen EinwohnerInnen sei bisher nur „sehr unzureichend gelungen“, schreibt er zum Beispiel in „Außer Dienst“, seinem vor drei Jahren erschienenen politischen Vermächtnis, und folgert: „Wer die Zahlen der Muslime in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf.“ Als damaliges Kabinettsmitglied wirkte er an dem Anwerbestopp von 1973 mit, den die Regierung Willy Brandt erließ.
Das Eigene und das Fremde: zu Hause in Almanya
Der erste, der als Türke prominent wahrgenommen wurde, war der Journalist Günter Wallraff. Dunkelhaarig und mit Schnäuzer getarnt, begab sich Wallraff als „Ali“ in die Welt der Gastarbeiter und malochte unter Tage. Sein daraus resultierendes Buch „Ganz unten“ ist seit seinem Erscheinen 1985 millionenfach verkauft worden.
Die türkische Migrationsbewegung nach Deutschland ist eine Geschichte von Trennung und Wiederbegegnung, von Fremde und Heimat, von Zusammenleben und Zusammenwachsen. Das „Land der Arbeit“ wurde von Jahr zu Jahr mehr zum „Land des Lebens“. In den vergangenen 50 Jahren hat es neben all den Schwierigkeiten auch überall deutsch-türkische Erfolgsgeschichten gegeben. Lebensläufe von Menschen, die hierher gekommen sind und Familien gründeten, die sich in vielfältiger Form einbringen. Sie prägen das kulturelle, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben dieses Landes massiv mit. Die einstigen Fremden haben die Republik verändert, das Land ist bunter geworden. Und die Mehrheitsgesellschaft musste einen Perspektivwechsel annehmen: Aus den „Gastarbeitern“ wurden MitbürgerInnen, die nicht mehr nur unter Tage arbeiten und die das Leben in zwei Kulturen für sich nutzen.
Doch was bedeutet der Spagat zwischen zwei Kulturen? Die türkeistämmige Schauspielerin Renan Demirkan schildert, sie sei immer und überall die Exotin gewesen. Deutsche RegisseurInnen wollten ihr Klischeerollen verpassen, türkische RegisseurInnen mochten ihr angeblich holpriges Türkisch nicht. In der Tageszeitung „Hürriyet“ war einst über die zierliche Künstlerin zu lesen, sie sei „eine Türkin, die von der Türkei keine Ahnung hat.“ Der deutsch-türkische Anwalt Mehmet Daimagüler aus Berlin beschreibt in seinem eben erschienen Buch, wie er in der Schule schikaniert wurde, LehrerInnen ihn diskriminierten und er nach der Grundschule trotz guter Noten nicht aufs Gymnasium gehen konnte. Der Jurist musste sich seinen Weg freikämpfen, um nach dem Haupt- und Realschulabschluss studieren zu können. Er hat es bis nach Harvard geschafft, war Berater bei Boston Consulting und Mitglied des Bundesvorstands der FDP. Diese zwei Kurzbiografien zeigen, dass das Aufwachsen in zwei Kulturen nicht immer einfach ist, es kollidieren die Wertvorstellungen und Wissenslücken verschiedener Umfelder miteinander.
Doch es ist auch eine wunderbare Chance, das Leben aus mehreren Blickwinkeln betrachten zu können; und trotz aller Widrigkeiten gibt es deutsch-türkische Biografien, die viel Mut machen. Ob Informatikbranche oder Finanzwelt – es gibt viele türkische Erfolgsgeschichten in Deutschland. Denn die Menschen sind mehrsprachig und motiviert, sie schaffen neue Jobs und sind eine wichtige Stütze der Wirtschaft. Dabei sind türkische UnternehmerInnen längst nicht mehr auf gastronomische Nischen fixiert. Rund 80.000 deutsch-türkische Unternehmer beschäftigen 400.000 Arbeitskräfte und setzen jährlich rund 35 Milliarden Euro um. Sie sind Anwälte, Ärzte und Unternehmensberater, sind Herrenfriseure und Änderungsschneider, Lebensmittelimporteure und Computerspielentwickler. Und nicht mehr nur Gemüsehändler und Dönerbudenbesitzer. Seit den zaghaften Anfängen in den 1970er Jahren mit Lebensmittelläden, Reisebüros und Dolmetschen hat sich das deutschtürkische Unternehmertum ausdifferenziert. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) hat 150 türkeistämmige UnternehmerInnen zu ihren Erfolgsrezepten befragt. Das Ergebnis: Die Geschäftsleute sehen den Mix deutscher und türkischer Eigenschaften als ihren großen Trumpf. Die allermeisten von ihnen verstehen sich, der PwC-Studie zufolge, als deutsche Geschäftsleute mit türkischen Wurzeln, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und behalten wollen. Diese Menschen sind mittendrin und nicht allein oder unter sich.
Auf der politischen Bühne ist der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir nicht mehr wegzudenken. Bilkay Öney (SPD) ist von der Berliner Abgeordneten zur baden-württembergischen Integrationsministerin aufgestiegen. Vural Öger hat sich zu einem der größten Reiseunternehmer der Republik hochgearbeitet. Kemal Sahin hat ein milliardenschweres Textilunternehmen aufgebaut. Sibel Kekili spielt seit neuestem im „Tatort“. Und als 2004 zum ersten Mal seit 18 Jahren der Hauptpreis der Berlinale nach Deutschland ging, gewann der Regisseur Fatih Akin den Goldenen Bären. Die Soapdarstellerin Sila Sahin zog sich kürzlich als erste Türkin für den Playboy aus und Feridun Zaimoglu schreibt auf Deutsch. „Die erste Generation, sie hat so gekämpft. Man soll diesen großartigen Menschen ein Denkmal setzen, um ihre Arbeit zu würdigen“, forderte Zaimoglu kürzlich und schiebt hinterher: „Achtet sie, diese schönen Menschen! Sonst werde ich zum Pitbull.“
Zurück in die Fremde: Tschüss Deutschland - Merhaba Türkiye
Wenn es nach dem CSU-Chef Horst Seehofer ginge, dann würde Emin Capraz gar nicht im Gerichtssaal stehen. Der 36-Jährige ist Anwalt und arbeitet in einer Kanzlei in Köln. Er hat einen deutschen Pass und seine Ausbildung und auch das Studium im Rheinland absolviert. Fließend Deutsch spricht er natürlich ohnehin. Emin Capraz ist also das perfekte Beispiel für gelungene Integration.
Aber da sind seine türkischen Wurzeln, nach den Worten des Politikers sind seine Eltern "Zuwanderer aus einem fremden Kulturkreis", die hier nichts so recht zu suchen haben. Gerade TürkInnen und AraberInnen, befand der bayerische Ministerpräsident im Winter letzten Jahres, täten sich schwer mit der Integration und sollten doch bitte lieber in ihrer Heimat bleiben. Emin Capraz liebt Deutschland, seine Heimat - aber er fühlt sich hier nicht mehr gewollt. Er geht deswegen jetzt zurück in das Land seiner Eltern, in die Türkei.
Er hat genug von Deutschland, genauer gesagt, genug davon, in diesem Land immer noch der Türke zu sein, ständig gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen. Immer wieder habe er erlebt, wie er allein wegen seines türkischen Namens anders behandelt wurde als Menschen mit deutsch klingendem Namen, sagt Capraz. Seine Frau stammt aus Honduras, hat ebenfalls in Deutschland studiert und zieht jetzt gemeinsam mit ihm im Februar nach Istanbul.
Das Ehepaar Capraz liegt im Trend. Deutschland ist längst kein Einwanderungsland mehr, sondern Auswanderungsland. Vor allem die Qualifizierten gehen - Deutsche wie andernorts Geborene -, die weniger Qualifizierten bleiben. Die "Hochqualifizierten" aus anderen Ländern wollen ohnehin erst gar nicht hierher, sondern bevorzugen die USA oder die Schweiz.
Vor allem die Zahl der türkischen AuswanderInnen aus Deutschland ist in den letzten Jahren beständig gestiegen. Die Migrationsrichtung hat sich längst umgekehrt: Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lag die Zahl der TürkInnen, die Deutschland verließen, 2008 bei knapp 35.000 - nach Deutschland zogen in demselben Jahr nur rund 27.000. Ein Jahr später packten schon 40.000 ihre Koffer, aus der Gegenrichtung kamen nur 30.000.
Die überwältigende Mehrheit der AuswanderInnen aus Deutschland ist gut ausgebildet, hat in Deutschland studiert. Ihre Eltern kamen ins Land, um hier irgendeine Arbeit zu bekommen. Die Kinder kehren nun in die Türkei zurück - um Anerkennung zu finden. Jede dritte türkeistämmige AkademikerIn will Deutschland verlassen - am liebsten in Richtung Türkei, ermittelte bereits 2008 die TASD-Studie über „Türkische Akademiker und Studierende in Deutschland“. Alles junge Menschen, in die auch finanziell durch Schule, Ausbildung und Studium erheblich investiert wurde.
Dabei kann es sich Deutschland gar nicht leisten, auf junge, gut ausgebildete Menschen zu verzichten. Mit dem Wirtschaftsaufschwung ist auch die Klage über den Fachkräftemangel wiedergekehrt - und die alte Forderung, die Grenzen für gut ausgebildete ZuwanderInnen zu öffnen. "Wir brauchen dringend mehr qualifizierte Zuwanderung aus aller Welt, und zwar als Teil einer Gesamtstrategie gegen Fachkräftemangel", sagt Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages.
"Inzwischen fehlen der Wirtschaft rund 400.000 Ingenieure, Meister und gut ausgebildete Facharbeiter - Tendenz: steigend", rechnet er vor: "So geht uns rund ein Prozent Wirtschaftswachstum verloren. In Zukunft wird sich der Mangel noch verstärken." Bis zum Jahr 2030, so Driftmann, dürfte das Potential von Arbeitskräften um sechs Millionen Menschen schrumpfen - das heißt, sechs Millionen Menschen, die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, fallen weg.
November 2011
Cigdem Akyol ist Redakteurin im Gesellschaftsressort bei der Tageszeitung (taz).